CIM: Warum ist Kreativität heute besonders wichtig?
Prof. Roland Lambrette: Ich möchte zunächst einmal vor dem Begriff „Kreativität“ warnen. Er ist butterweich. Jeder versteht darunter etwas Anderes. Ich würde eher von Originalität, von einem eigenen Gestaltungswillen und dem Mut zum Risiko sprechen. Diese Haltung ist wichtig, weil wir in einer Zeit des ‚Copy & Paste‘ leben. Viele Agenturen adaptieren einfach die gleichen erfolgreichen Strategien, die sie irgendwo im Internet oder beim Wettbewerber finden. Die Uniformität ist soweit fortgeschritten, dass schon eine Betriebsfeier nicht mehr ohne Oscar-Verleihungs-Fanfaren auskommt. So gibt es immer mehr vom Gleichen. Wir sehen eine gestalterische Verarmung. Das ist schlecht für unsere Branche. Es wird Zeit, wieder selber zu denken und neue Formate zu erfinden.
Warum ist Kommunikation im Raum, warum sind Veranstaltungen eine ideale Plattform für Kreativität?
Weil sie mit Menschen, mit dem Zufall und dem Unberechenbaren zu tun haben. Das zwingt dazu, offenen Prozessen einen Rahmen und eine Bühne zu geben. Da braucht es viel Gespür, Erfahrung und Einfühlungsvermögen. Face-to-face-Kommunikation ist Marktforschung in Echtzeit, die Besucher sagen Ihnen ihre Meinung direkt und ungefiltert ins Gesicht.
Woran erkennt man kreative Ideen?
Daran, dass sie eine Aufgabenstellung komplett neu durchdenken und das dazu passende neue Format erfinden. Es geht um ein intensives und tiefe Auseinandersetzen mit den Menschen und ihrem jeweiligen Thema. Unsere Welt, der Erfahrungsschatz unserer Zielgruppen, die gesellschaftlichen und technologischen Rahmenbedingungen ändern sich extrem schnell. Da ist kein Platz für ein ‚Wir machen’s wie beim letzten Mal‘.
Wer sich auf Kreativität einlässt, muss mit unerwarteten Situationen rechnen. Wie passt das zur Maßgabe getakteter Dramaturgie und Effizienz, die heute Standard ist?
Es ist ein Irrglaube, gestalterischen Mut mit Chaotik gleichzusetzen. Ganz im Gegenteil. Eine kluge Dramaturgie weiß, dass sie nur aufgeht, wenn die Gäste mitgehen. Sie müssen deshalb Raum für Improvisationen in dieses Prozessgeschehen einplanen, weil das allzu Perfekte einfach nur tot ist.
Wie kann man kreativen Prozessen eine Struktur geben?
Briefings sind keine Ansagen! Sie sind Einladungen dazu, eine ideale Lösung zu finden. Gestalten ist nichts für Ja-Sager. Alle beteiligten Gewerke sollten Ideen einbringen können, die moderiert und schließlich in ein Konzept gegossen werden. Schwarmintelligenz statt behaupteter, genialer Eingebung.
Kreativität und Digitalisierung: wie geht das bei Veranstaltungen, der Kommunikation im Raum, zusammen?
Die Digitalisierung unterstützt die Organisation. Ohne Software ist heute kein komplexeres Projekt mehr möglich. Sie schafft Transparenz in der Vorbereitung. Sie ist ein Hilfsmittel der Kreation und erlaubt es, dass immer größere Gruppen von Spezialisten, die sich oft nicht einmal persönlich begegnen, dennoch gemeinsam kreativ arbeiten können.
Wo hat Kreativität in der Politik ihren Platz?
In meiner ADC-Keynote hatte ich dafür plädiert, dass sich die Branche auch mal an die eigene Nase fasst und fragt, was sie mit dem 50-Mrd.-Euro-Budget anfängt, das in Deutschland jährlich für Kommunikation aufgewendet wird. Wir sind diejenigen, die Träumen und Wünschen Gestalt geben und müssen uns fragen, ob es noch die richtigen sind. Wir können uns nicht damit herausreden, dass wir ja nur ‚Dienstleister‘ sind. Und ich bin über die Einfallslosigkeit der Politik, insbesondere der sogenannten Volksparteien, entsetzt. Sie schaden damit nicht nur sich selbst, sondern unserer gesamten Gesellschaft. Ihre Unfähigkeit, Vorstellungen von einer positiven, erstrebenswerten Zukunft in Bilder und Geschichten zu übersetzen, macht dem Rückfall in alte und gefährliche Denkmuster Tür und Tor auf.
Kann man Kreativität lernen? Und Teilnehmer animieren, selbst kreativ zu sein?
Ja, klar: vor allem nicht gleich googeln, wenn ein Auftrag reinkommt. Sondern eine eigene Vorstellung von der Aufgabe entwickeln und diese begründen können. Viele Kunden sind heilfroh, wenn ihre Briefings hinterfragt werden. Denn Wasserträger haben sie in ihren Firmen genug. Sie suchen unsere Erfahrung, nicht unsere Excel-Listen.
Vielen Dank für das Gespräch!
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Roland Lambrette ist seit 2004 Professor für Temporäre Architektur und seit 2017 Rektor der Hochschule für Künste Bremen. Mit Freunden gründete er in den 90er Jahren Atelier Markgraph, eine Kommunikationsagentur in Frankfurt/Main. Das auf das Gestalten von Räumen, Ausstellungen und Veranstaltungskonzepten spezialisierte Start-up wuchs schnell mit den Anfragen. Es erstürmte das Ranking der Kreativszene und hob mit wenigen anderen Büros eine eigene Gestaltungsdisziplin aus der Taufe: die Kommunikation im Raum. Für sein Lebenswerk wurde Lambrette 2019 vom ArtDirectorsClub für Deutschland (ADC) ausgezeichnet.