CIM: Herr Dusel, wie inklusiv ist Deutschland?
Jürgen Dusel: Deutschland ist in manchen Bereichen gut aufgestellt, beispielsweise was das Thema Teilhabe am Arbeitsleben betrifft. Zwar gibt es auch hier noch viel Luft nach oben, aber im europäischen Vergleich stehen wir gut da. Bei der Barrierefreiheit im privaten Sektor hingegen ist Österreich oder Schweden viel besser als wir. Und wenn wir uns die USA anschauen, stellen wir fest, dass dort hergestellte Produkte meist barrierefreier sind als bei uns. Wir haben das Thema in den letzten Jahren sehr stark auf das Thema Bildung und gemeinsames Lernen verkürzt, was natürlich ein wichtiger Aspekt ist. Es ist mir aber wichtig, klarzustellen, dass Inklusion alle Lebensbereiche betrifft. Es gibt in Deutschland rund 13 Mio. Menschen mit Beeinträchtigungen, ungefähr 8 Mio. davon mit Schwerbehinderungen. Diese Gruppe ist sehr heterogen und nur drei Prozent dieser Personen wurden mit ihrer Behinderung geboren. Die allermeisten erwerben ihre Behinderung im Laufe des Lebens, und zwar weit, nachdem sie zur Schule gegangen sind. Ich bin der Meinung, dass Barrierefreiheit eine Frage der Qualität eines Landes und dessen Infrastruktur ist. Hier können wir noch eine Menge lernen.
Die pandemische Lage beherrscht seit 1,5 Jahren den öffentlichen und politischen Diskurs. Ist das Thema Barrierefreiheit durch die COVID-19-Pandemie in den Hintergrund gerückt?
Ich würde sagen, dass die Pandemie Problemlagen, die vorher – auch im Bereich der Barrierefreiheit – bereits sichtbar waren, verschärft hat. Anfangs gab es beispielsweise viel zu wenig Informationen in Gebärdensprache oder leichter Sprache. Da hat sich tatsächlich vieles zum Positiven geändert, gerade wenn ich an die Pressekonferenzen der Bundesregierung oder auch an die Briefings und Informationsmaterialien des Robert Koch-Instituts denke. Wir dürfen aber nach der Pandemie nicht in ein „Business as usual“ zurückfallen, sondern müssen uns klarmachen, dass diese Krise auch die Chance bietet, Deutschland moderner zu machen – und da zählt die Barrierefreiheit als zentraler Punkt dazu. Ich hoffe und erwarte, dass in der Pandemie getroffene Entscheidungen – Stichwort: Konjunktur-/Krisenbewältigungspaket –mit dem Qualitätsstandard der Barrierefreiheit verknüpft werden. Denn nur ein barrierefreies Land ist ein modernes Land.
Sie sind häufig Gast von Konferenzen und Tagungen. Wie barrierefrei waren die Veranstaltungen, die Sie zuletzt besucht haben?
Der Fokus liegt bei Live-Events noch sehr stark auf RollstuhlnutzerInnen. Ich selbst bin blind – ich kann gut Treppen laufen, brauche dafür aber andere Hilfsmittel. Die Gruppe der Menschen mit Behinderung ist sehr unterschiedlich und so sind es auch die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit ein Event barrierefrei ist. Zudem fängt Barrierefreiheit schon vor der Veranstaltung an: mit der barrierefreien Bewerbung des Events oder einem barrierefreien Internet-Auftritt. Das Bewusstsein für barrierefreie Veranstaltungen ist sicherlich gestiegen, im Großen und Ganzen würde ich das aber in Frage stellen. Die Kommunikation zwischen Planenden bzw. AnbieterInnen und Menschen mit Behinderung ist noch nicht gut genug.
Wie können wir das ändern?
Zum Beispiel, indem auch in der Veranstaltungswirtschaft Menschen mit Behinderung eingestellt werden, die als ExpertInnen in eigener Sache aktiv werden. Indem man Kontakt aufnimmt mit den Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit Behinderungen, die hoch qualifiziert sind, wenn es um solche Dinge geht. Indem man versteht, dass Barrierefreiheit ein Qualitätsmerkmal ist, eine Veranstaltung qualitativ nach vorne bringt und, dass davon viele Menschen profitieren. Indem man Fortbildungen in dem Bereich organisiert und sich bei der Bundesfachstelle für Barrierefreiheit informiert. Es braucht manchmal gar nicht viel – auch nicht an Kosten – um eine Veranstaltung barrierefrei zu gestalten.
Was glauben Sie, ist nötig, um das Bewusstsein für Barrierefreiheit in der Veranstaltungswirtschaft langfristig zu schärfen?
Für Barrierefreiheit brauchen wir Expertise und gerade deswegen ist es so wichtig, dass das Thema Platz in den Ausbildungscurricula der Berufe bekommt, die es betrifft – wie ArchitektInnen, BauingenieurInnen aber eben auch Personen, die im Eventbereich tätig sind. Denn wer in der Ausbildung oder im Studium nichts über Barrierefreiheit lernt und persönlich, im Familien- oder Freundeskreis nicht betroffen ist, der weiß schlicht zu wenig darüber. Wichtig ist es auch zu verstehen, dass es bei Barrierefreiheit nicht um etwas Nettes oder Fürsorgliches, sondern um die Umsetzung von Grundrechten geht. Menschen mit Behinderung sind BürgerInnen dieses Landes und sie haben genau die gleichen Rechte wie alle anderen auch. Letztlich ist es eine Frage unseres demokratischen Verständnisses, dass Menschen teilhaben können. Demokratie braucht Inklusion – denn Demokratie und Inklusion sind im Grunde zwei Seiten derselben Medaille und ich kann mir ein gutes demokratisches Land nicht vorstellen, ohne dass dieses inklusiv denkt und handelt. Und: wir dürfen nicht nur über Problembewusstsein sprechen, sondern müssen auch die rechtlichen Rahmenbedingungen setzen. Dann wird sich hier auch etwas entwickeln.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Dusel!
Johanna Müdicken